“Die Seele freilegen”

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Unbezahlte Werbung | Der Eppendorfer Jon Flemming Olsen, Gründer der Band Texas Lightning und vor allem bekannt als Imbisswirt Ingo in der Kult Serie „Dittsche“, hat gerade sein drittes Solo-Album rausgebracht: „Mann auf dem Seil“. Wir haben mit ihm über sein neues Werk gesprochen und verlosen 3 Exemplare.

Ich habe gelesen, dass du ein großer Zweifler bist. Ist es dir unter diesem Aspekt schwergefallen, das Album überhaupt rauszubringen, also nicht an ihm zu zweifeln?

Ein Album zu veröffentlichen ist immer ein sehr langer Klimmzug. Die Arbeit daran hat auch diesmal ein gutes Jahr in Anspruch genommen. Und es stimmt, der Selbstzweifel ist dabei ständiger Begleiter.  Der bringt Einen zwar einerseits dazu, auch immer besser werden zu wollen, andererseits streut er natürlich auch immer Sand ins Getriebe.

Gute Voraussetzungen für einen Musiker …

In der Tat. (lacht) Dazu kommt, dass ich bis vor wenigen Jahren immer Bands gehabt habe, deren Motor ich war. Jede Anstrengung, die man aus dieser Position heraus unternimmt, unternimmt man dann ja auch für seine Mitstreiter, gewissermaßen für das Kollektiv. Als das dann nicht mehr da war, musste ich erstmal eine ganz andere Dynamik entwickeln. Wenn ich jetzt keinen neuen Song schreibe, den Veranstalter in Köln nicht anrufe, den Gig nicht abmache, dann interessiert das auch erstmal niemanden. Derjenige, der mich dann zärtlich in den Hintern tritt, muss ich selbst sein. Insofern ist das Solokünstlerdasein für mich auch Eigentherapie. Ein Teil von mir muss den Selbstzweifel ständig in Schach halten, damit er mich nicht ins Stocken bringt.

Jetzt das dritte Soloalbum, die Eigentherapie scheint zu klappen.

So sieht es aus. Zu meinem ersten Soloalbum musste ich ja quasi noch hingeschubst werden! (lacht) Da kam ein Hamburger Label auf mich zu und sagte: Kannst Du Dir vielleicht vorstellen, große Songs der Popgeschichte der letzten 50 Jahre mit deutschen Texten und neuem Klanggewand zu versehen? Während der Arbeit an diesem Album sind dann nach langer Zeit erstaunlicherweise auch wieder eigene Songs entstanden.

Also als Beifang quasi.

Richtig! Ohne den hätte es vielleicht auch gar kein zweites Album gegeben hätte: Mein Label wurde wenig später von der Sony übernommen, und die hatte an einer weiteren Zusammenarbeit kein Interesse. Da aber gerade die wenigen Eigenkompositionen des ersten Albums beim Publikum die stärksten Reaktionen hervorgerufen hatten, hab ich mir gesagt: Dann schreibst Du jetzt weiter – und bringst Dein nächstes Album selbst heraus!

Der Name des Albums und auch ein Song heißen „Mann auf dem Seil“. Wie kam es dazu und was bedeutet es?

Im Jahr 1974 unternahm ein junger Franzose namens Philip Petit in 450 m Höhe einen Spaziergang auf einem von ihm – höchst illegealerweise – gespannten Drahtseil von einem zum anderen Turm des World Trade Centers in New York. Es gibt einen bewegenden Dokumentarfilm über ihn, die Planung und Durchführung dieses Vorhabens – und über den bin ich vor ein paar Jahren gestolpert. Zum Einen hat mich dieser vollkommen verrückte Wagemut fasziniert, zum Anderen aber, und das fand ich noch spannender, hat diese Tat auch etwas anarchisches und zutiefst poetisches. Denn für einen kurzen Moment verwandelte sie diese Türme und machte sie zu einer Bühne: Was für ein winziger Punkt war dieser Mensch dort oben gegen sie? Wie konnte er es wagen, diese Monumente der Macht zu seinem persönlichen Spielplatz zu machen? Da steckte für mich sehr viel Anrührendes drin – und das war Ausgangspunkt für den Song. Und Spannung, Gefahr und Mut, all das gehört ja auch in die Zeit, in der wir uns gerade befinden.

Man könnte denken, dass du der Mann auf dem Seil bist oder gerne wärst.

Ja und nein. In dem Lied heißt es zwar „wie der Mann auf dem Seil, so will ich sein“. Geschrieben ist das aber aus der Perspektive eines kleinen Jungen, der vielleicht gerne auch so mutig wäre wie der Franzose. Ich weiß nicht, ob ich mit so einem Menschen ernsthaft gerne tauschen würde. Das ist auch ein sehr abstrakter Gedanke.

Jon Flemming Olsen hat für seine CD 13 neue Lieder eingespielt – live und mit Streichquartett. Er hat fast alle Streicharranghements selbst geschrieben und bildet mit verschiedenen Gitarren den Mittelpunkt. © Anne de Wolff 2020

Ich habe gelesen, dass du die Songs in kleinem Haus in Dänemark, in einer Hütte an einem See, ganz alleine geschrieben hast. Was macht das mit einem?

Ich glaube, ich kann gar nicht anders schreiben. Ich muss weg sein, ganz alleine, niemanden sehen, nicht telefonieren, keine SMS und kein Internet. Ich käme sonst aus der normalen Alltäglichkeit gar nicht heraus. Spätestens nach zwei Stunden erfolglosem rumklimpern auf der Gitarre, würde ich denken: Du musst doch noch die Wäsche aufhängen! Oder: “Ruf doch mal Bernd an – von dem hast Du so lange nichts gehört!” Wenn diese Ausweichmanöver gegen drohenden Frust aber gar nicht möglich sind, macht man eben weiter. Der Rest, das Schreiben an sich, ist ein höchst mysteriöser Vorgang. Völlig unvorhersehbar. Der Prozess, die eigene Seele so freizulegen, ist spannend, aber auch nicht immer angenehm. Und so 9 bis 10 Tage am Stück vollkommen allein zu sein – quasi in seiner eigenen kleinen Glaskugel, ist für jeden Zivilisationsmenschen eine extreme Erfahrung. Die Einsamkeit muss man aushalten lernen. Inzwischen aber habe ich diese Exkursionen aber tatsächlich lieb gewonnen.

Der Song „Alles wahr“ ist laut deiner Aussage als Verschwörungspersiflage gedacht. Worauf genau beziehst du dich?

Wir befinden uns in einem Zeitalter der Krisen. Eine davon besteht in der Auflösung der Allgemeingültigkeit und des Realitätsbeweises. Das hat viele Gründe, aber ein entscheidender ist technologischer Art. Wir sind heute in der Lage jedes digitale Dokument, Fotos, Audio und Video nahezu unbegrenzt zu manipulieren. Gesichter und Mimik selbst im bewegten Bild können praktisch mit jedem Smartphone verändert oder ausgetauscht werden. Wenn aber nichts mehr wahr ist, löst sich die Realität auf. Es gibt – so denken zumindest viele inzwischen – für nichts mehr irgendeinen Beweis. Nicht für die Klimakrise, nicht für die Existenz eines Virus. Und beginnen gleichzeitig, an die abstrusesten Theorien zu glauben – das ist gruselig. Davon erzählt “Alles wahr”. Mit Humor und satirischem Sarkasmus.

Wenn du die drei Alben einordnest – wo ist dieses?

Ich hab das Gefühl … (überlegt) ich bin ganz schön zufrieden damit. Es ist kein Song darauf, bei dem ich die Augen schließen und ihn innerlich durchwinken müsste. Ich glaube, mindestens drei oder vier Songs sind das Beste, was ich jemals bisher geschrieben habe.

Welche sind es, nenne doch bitte mal drei Songs?

Einer ist auf jeden Fall „Wenn du wiederkommst“, ein trauriges Lied. Nicht melancholisch, sondern wirklich traurig. Es geht um Verlassen sein und Einsamkeit. Man ahnt: der arme Tropf, der hier singt, wird den vermissten Menschen nicht zurück kriegen. Auf keinen Fall. Das ist wirklich dunkel. Und doch blitzt da im Text immer wieder Humor durch. Es wird mit wenig Worten viel erzählt, und – ja, auch auf die Komposition bin ich ein bisschen stolz. „König in meiner Baracke“ dreht sich um Selbstfindung und Selbstbestimmung. Das Lied ist vielleicht auch eine Art Abschied von der vermeintlich glamourösen Welt, in die ich zufällig nach unserem sehr erfolgreichem Texas Lightning-Hit „No, No, Never“ geraten bin. (Damit vertrat Texas Lightning Deutschland beim ESC 2006, die Red.). Ich will keinen schönen Schein, ich möchte Geschichten erzählen, so wie in „Wildes Tier“. Hier geht es um Wut, um lange unterdrückten Groll und die hauchdünne Decke unseres zivilisierten Benehmens. Das Lied ist vielleicht auch ein Plädoyer dafür, das Archaische in uns zuzulassen, bevor sich der angestaute Frust ins Wutbürgerhafte verkehrt.

Du erzählst deine Geschichten auf einem Album, das live und mit Streichern eingespielt wurde. Wie kam es dazu?

Das letzte Album habe ich in kleiner Bandbesetzung rein akustisch aufgenommen. Das gefiel und gefällt mir immer noch total gut, aber ich wollte auch nichts einfach nur wiederholen. Dieses Album sollte anders klingen als sein Vorgänger. Und auch anders, als das viele Kollegen und Kolleginnen machen. Seitdem ich mit 11 Jahren das Beatles-Album “Revolver” im Plattenschrank meiner Eltern entdeckt habe – Eleanor Rigby ist ein Jahrhundertstreichquartettarrangement – bin ich so ne Art Streichquartettfan. Insofern lag das nahe. Ich dachte, dieses Zusammenspiel mit den Streichern kann ein schönes Gewand für meine Geschichten und meine Gitarren ergeben. Es hat wunderbar funktioniert.

Trafen sich zum Gespräch in Eppendorf: Singer/Songwriter Jon Flemming Olsenund Chefredakteur Kai Wehl.

Leider wird im Radio ja nur eine ganz bestimmte Art deutsche Musik gespielt, welcher der Songs hat denn die größte Chance dahin zu kommen und Nummer 1 zu werden?

(lacht) Gar keiner. In der deutschen Radiolandschaft, das weiß auch jeder, ist das mit deutschsprachigem Singer-Songwriter-Material im Grunde hoffnungslos. Da braucht man sich auch keinen Illusionen hingeben. Dieses Genre findet nicht statt. Natürlich gibt es alle Jubeljahre mal Ausreißer und Glücksgriffe, Lieder, die es dann „trotzdem“ irgendwie im Radio schaffen. Das Problem ist, dass zu 99% Musik gespielt wird, die die wenigen großen Labels den Sendern „hinwerfen“. Alles links und rechts davon wird praktisch nicht gesehen. Für die privaten Sender ist das ja vielleicht auch ok. Aber die öffentlich-rechtlichen haben im Gegensatz zu den privaten einen Auftrag. Ich finde, dass sie ihrer Verantwortung einer breiten Abbildung nicht gerecht werden. Aber abgesehen davon: Ich muss mit gar nichts Nummer Eins werden. So etwas kommt in meiner Welt ohnehin nicht vor. Dass mir das mit Texas Lightning mal passiert ist, war ein ungeheurer Zufall. Ein einmaliges Zusammenspiel von vielen Faktoren. Niemand hätte da vorher jemals drauf gewettet. Ich schon gar nicht, ich habe nie Musik gemacht mit dem Ziel Charterfolge zu feiern. Der Gedanke ist mir nie gekommen, klingt absurd, aber ist wirklich so.

Warum machst du denn Musik?

(überlegt lange) Weil es gar nicht anders geht. In der Endphase von Texas Lightning bin ich in eine veritable Krise geraten. Ich bin hab mich selbst entlassen und hab ein Jahr lang kein Instrument mehr angefasst. Das war damals wahrscheinlich auch sinnvoll und notwendig, aber nach diesem Jahr war mir klar, so kann es nicht weitergehen. Nicht Musik zu machen ist auch keine Lösung.

TIPP UND VERLOSUNG:

Kann man gut hören: Jon Flemming Olsens „Mann auf dem Seil“. Ist gerade bei superlaut/edel erschienen.

Die Kombi aus Jon Flemming Olsens Gitarren und dem Streichquartett (das Kammerensemble Konsonanz Bremen) hat sich gelohnt, finden wir in der Redaktion. Das Album kommt – vor allem durch die Streicher und dank Olsens Stimme, sehr melodiös und einfühlsam daher. Was uns ebenfalls gefällt, das Album greift ohne aufdringliche Botschaft Probleme der Zeit auf. Wir verlosen 3 Exemplare des Albums: wer eines gewinnen möchte, der sendet bis zum 20. November eine E-Mail mit dem Stichwort “Olsen” an redaktion@alster-net.de.*

*Teilnahmebedingungen:

Teilnehmen können Personen ab 18 Jahren. Das Gewinnspiel endet am 20. November 2020 um 23:59 Uhr. Der/die Gewinner*Innen werden per Zufall ermittel und erhalten von uns die CD zugesandt. Adressen werden nicht gespeichert und nur zur Gewinnübermittlung genutzt. Eine Barauszahlung oder Tausch des Gewinns ist nicht möglich. Dieses Gewinnspiel steht in keinem Zusammenhang mit Facebook oder Instagram und wird von Facebook oder Instagram weder unterstützt noch organisiert. Jede/r Teilnehmer/in hat nur eine Gewinnmöglichkeit, mehrfaches Kommentieren erhöht die Gewinnchance nicht. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.