Aus einem bewegten Leben

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Der Mann hat was erlebt, tourte mit den Beatles und den Rolling Stones, hat die Rock’n Roll-Ära mitgeprägt und steht seit 60 Jahren auf der Bühne: Achim Reichel. Jetzt hat er viele Dinge aus seinem Leben aufgeschrieben und in ein Buch gepackt. Wir haben uns mit dem 76-Jährigen bei ihm zu Hause in Hummelsbüttel getroffen und ein wenig geschnackt.

Über 100 Mal stand Achim Reichel mit dem gleichen Programm ab 2009 auf der Bühne: „SOLO MIT EUCH, mein Leben meine Musik – gesungen und erzählt“. Dass diese gut fünf Jahre währende „Storyteller-Tour“ so gut ankam, das mag er bis heute kaum glauben. „Die Fans waren verrückt danach und es gab unzählige Konzertanfragen.“ Er schmunzelt. „Na und dann hab ich mir gedacht, ich muss noch mehr erzählen aus meinem Leben. Aber auf der Bühne, das wären ja über drei Stunden und ich wäre noch nicht fertig.“ Die Idee zu seinem Buch war geboren.

Ein Buch war Neuland für Reichel, „Es hat mir richtig Spaß gemacht und ich habe angefangen an einzelnen Sätzen zu feilen und Passagen umzustellen. Anfangs habe ich mich, immer, wenn ich etwas Zeit hatte, in mein Studio gesetzt und Dinge aufgeschrieben, die mir in den Kopf kamen. Dabei bin ich nicht chronologisch vorgegangen. Problem: Wenn ich mal zwei Wochen Pause gemacht hatte und weiterschreiben wollte, wusste ich gar nicht mehr, wo ich war.“ 

Das Alstertal Magazin war mehrfach bei Achim Reichel im Studio zu Gast. Dieses Foto entstand 2004 im Rahmen eines Interviews zu „100% Leben – die Live-Doppel-DVD“. © Kai Wehl

So würde das nichts werden, das wurde dem Hummelsbüttler irgendwann klar. Ein Ort musste her, an dem er in Ruhe schreiben kann. „So kam ich auf die Idee, mit einem Frachter drei Wochen lang von Hamburg nach Namibia zu fahren.“ Das war praktisch und hatte noch einen weiteren positiven Effekt. „Viele Kerle aus unserer Familie sind zur See gefahren. Davon habe ich als Junge von St. Pauli auch mal geträumt.“ Im reifen Alter hat er es quasi noch geschafft. Und es hat funktioniert, denn viel los sei als einziger Passagier nicht an Bord gewesen. Man stehe mit dem Gedanken an das Buch auf, esse etwas und schlafe mit dem Gedanken an das Buch ein. Unterbrochen wird diese Monotonie vom monotonen Blick auf Wasser und Himmel und Horizont, wenn man an der Reling stehe. Immer das gleiche Bild. Tagelang. „Das macht was mit einem in der Birne“, sagt Achim Reichel lächelnd. Vor allem habe das ruhige Nachdenken bei ihm Türen der Vergangenheit geöffnet. „Plötzlich fallen einem Personen, Namen und ganze Sätze ein, die man längst vergessen wähnte.“ Etwas Abwechslung gab es dann doch einmal, ein Seemann erkannte ihn und so gab es das berühmte „Aloja heja he“ gemeinsam mit den Seemännern. Passt ja auch.

Eine Zeile dieses zeitlosen Titels wurde dann auch zum Titel der Autobiografie. „Ich hab‘ das Paradies gesehen“. „Weil mir beim Schreiben klargeworden ist, dass es das Schicksal gut mit mir gemeint hat. Es hat sich alles zusammengefügt. Und hatte auch Glück, denn so manche Entscheidung hat mich im Nachhinein zu neuen, guten Dingen geführt. Meine Frau sagt immer, ,bei deiner Geburt muss eine Fee am Bett gestanden haben‘“. Rückblickend könne er manchmal gar nicht glauben, was er alles erlebt habe.

Dazu eine passende Stelle aus dem Buch: „Wenn ich heute in meinem Musikzimmer stehe, umgeben von Vinyl- und CD-Regalen, dann bin ich in meiner Welt. Was sich hier innerhalb von 60 Jahren miterlebter Musikgeschichte angesammelt hat, legt in stilistischer Vielfalt Zeugnis darüber ab, welch einzigartigen musikalischen Reichtum die große Ära der Rockmusik in einem halben Jahrhundert hervorgebracht hat. Bei jeder wahllos herausgegriffenen Scheibe schickt mich die eigene Erinnerung zurück in meine Vergangenheit.“ (S. 289)

In der traf Reichel beispielsweise schon 1961 auf die Beatles, als sie auf der Reeperbahn im Top Ten Club „nur“ Begleitband waren. 1966 begleitete er sie mit seinen Rattles – die er zusammen 1960 mit Herbert Hildebrandt gegründet hatte –, bei einer Tournee in Deutschland im Vorprogramm. „Die Beatles und die Rolling Stones (1963 waren die Rattles mit ihnen in England auf Tour, d.Red.) waren am Anfang ja noch nicht bekannt. Es war ganz normal, mit ihnen zusammen zu sein, das war halt so.“ Dieses authentische Miterleben und Mitgestalten von Musikgeschichte ist sicherlich einer der Hauptpunkte, der die Faszination Achim Reichel ausmacht. Und, dass er nicht in der Vergangenheit stecken geblieben ist, sondern sich immer wieder neu erfunden hat. Ob Shantys, Balladen oder deutsches Liedgut, etwa in den Volxliedern. „Die Leute hielten mich für verrückt. Ich wollte es aber und im Nachhinein war es richtig.“

Das Buch gewährt einen Einblick in das Leben Achim Reichels: vom Jungen auf St. Pauli bis zum gereiften Musiker.

Genau wie das Buch jetzt, das es schon kurz nach Erscheinen in die Spiegel-Bestseller-Liste geschafft hatte. Das große Interesse, auch seitens der Medien, habe ihn etwas überrascht, aber vor allem gefreut, so Reichel. Vor allem auch, dass zwei Elphi-Lesungen sofort ausverkauft waren. „Das habe ich nicht für möglich gehalten. 90 Minuten Vorstellung und davon 60 Minuten gelesen, unterbrochen durch Songs mit Akustikgitarre – die Leute waren derartig happy, das war unglaublich. Und ich habe gemerkt, wie viel Spaß es mir bringt, aus dem Buch vorzulesen. Mit meiner Stimme kann ich mich da so richtig reinlegen.“ Nicht umsonst lebt der Hummelsbüttler seit 60 Jahren von seinem Gesang und der Musik.

Achim Reichel, Ich hab das Paradies gesehen, Rowohlt Buchverlag, 9/2020, geb., 416 Seiten, 24 Euro