Zukunft verschlafen?

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Hat Deutschland seine Zukunft verschlafen?

Der in Hamburg lebende ehemalige Top-Manager Dr. Thomas Middelhoff hat ein neues Buch vorgelegt. Der Hamburger Verleger und Publizist Wolfgang E. Buss sprach erneut mit dem Autoren. Das erste Mal trafen sich beide zur Alstertaler-Business-Lounge im Wellingsbüttler „del“. Ein spannendes Gespräch – man konnte eine Stecknadel fallen hören. Heute geht es um Deutschlands Zukunft. Das Gespräch liegt auch als Podcast vor.

Der Mann ist aktiv, glänzend vernetzt und ein kritischer Autor. Und das trotz seines Gesundheitszustandes, der sich mit dem Beginn seiner Haftzeit stark verschlechtert hat. Seit er in seiner Zelle von Vollzugsbeamten wegen richterlich-festgestellter Suizid-Gefahr über Wochen alle 15 Minuten geweckt wurde, leidet er an einer unheilbaren Autoimmun-Erkrankung. Amnesty-International würde von schwerer psychischer Folter durch Schlafentzug sprechen.
Im Laufe unseres Gesprächs frage ich ihn zu vielen Aspekten, die er in seinem aktuellen Buch anspricht. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen Manager, Investoren und Politiker. Doch tatsächlich sind es nicht nur die genannten Gruppen, vielmehr sind es breite Teile der deutschen Gesellschaft, die mit ihrer „German Angst“ äußerst kritisch der Digitalisierung gegenüber standen. Unter dem Einfluss von Politik und Medien, die dazu beitrugen, Menschen zu verängstigen, wurde eine konsequente Entwicklung mit immer neuen Datenschutzbestimmungen verhinderten.
Die Eliten in Deutschland haben versagt! Das hat der erste Corona-Lockdown im Frühjahr wie unter einem Brennglas deutlich gemacht. Denn es fehlt in Deutschland nicht nur an digitaler Infrastruktur, in der Bildung herrscht besonderer Mangel. Vor 25 Jahren gab es eine initiative „Schulen ans Netz“, berichtet mir Middelhoff aus einem Gespräch mit Ron Sommer (Ex-Telekom), doch bis heute ist das nicht realisiert. Es ist eine Mischung aus allem, die vor 20 Jahren mit dem Platzen der Dotcom-Blase begann, seit dem koppeln wir uns ab. Die besten Digitalspezialisten haben wir vom Hof gejagt. 2000 bis 2010 ist das verlorene Jahrzehnt, sagt Middelhoff. Und das hat Auswirkungen bis heute. Wie oft haben wir in Deutschland Lästereien über Amazon gehört, dass es nicht seien könne, Schuhe im Internet zu bestellen, die passen doch gar nicht! Heute hat „Amazon Prime“ mehr Mitglieder als die evangelische Kirche in Deutschland!
Doch einem digitalen Durchstarten, so Middelhoff, stehen Politik wie Unternehmen noch immer im Wege. Als Beispiel nennt er die Corona-App, die von ein paar Start-Ups mit App-Expertise bereits fertig entwickelt war. Dann aber setzte man auf den letzten Metern SAP und Telekom ran, die von Apps nichts verstehen. Und diese wichtige Digital-Technologie zur Bekämpfung der Pandemie hat quasi voll versagt. Doch nicht nur die App versagt, nicht einmal ein zuverlässiges arbeiten aus dem Home-Office ist möglich, da auf das deutsche Netz kein Verlass ist. Nur ein paar zusätzliche Videokonferenzen und Netflix-Downloads bringen es zum Absturz – in einem Hochtechnologie-Land.
Doch Digitalisierung geht bei uns auch parallel mit der Angst vor Arbeitsplatzverlusten. Ganz besonders im Bereich der gehobenen Einkommen, so meint man heute, also nicht in den unteren Lohngruppen, wird es starke Disruptionen geben. Besonders betroffen sein werden Banken, Versicherungen, Steuerberater oder Anwälte. Hier werden perfektionierte Algorithmen starke Veränderungen auslösen. Und jener heutigen Elite wird man anbieten müssen, auf weiterhin unterbesetzte Branchen – zum Beispiel in der Altenpflege – umzuschulen. Haben wir, um das zu vermeiden, den Kopf gerne in den Sand gesteckt und gehofft, der Digital-Spuk wird schon irgendwann über Deutschland hinweggeweht sein?
Es fehlen deutlich die Aufrufe aus dem Management, selber Geschäftsmodelle zu entwickeln, um damit den großen amerikanischen Plattformen angemessen Konkurrenz zu machen.
Insbesondere rückt auch der stationäre Einzelhandel in den Blick. Hier gibt es eine starke Verlagerung der Umsätze ins Netz. Doch die Gewinne der gigantischen Handels-Plattformen werden nicht einmal in Deutschland versteuert. Man verschiebt sie in Steueroasen. Fehlt hier eine Digitalsteuer? Middelhoff sieht hier das Versagen bei der Politik! Es kann nicht sein, das ein mittlerer Einzelhändler keinen Euro mehr neben der Steuer erwirtschaften kann, die Mega-Konzerne sich aber „legal“ aus der Verantwortung ziehen. Die Politik stärkt hier die Giganten – und bestraft die Kleinen und Ehrlichen. Denn es wäre gar kein Problem für Amazon, in Deutschland jährlich 10 Milliarden Euro Steuern zu zahlen. Der Grund ist das klägliche Versagen des Finanzministers, füge ich hinzu.
Es fehlt hier an einer gesellschaftlichen Empörung.
Überwiegen im Buch Kritik oder gibt es auch Zuversicht? Werden wir den enormen Rückstand jemals aufholen können?
Mitautor Cornelius Boersch gibt sich als Unternehmer etwas zuversichtlicher, Middelhoff etwas „ehrlicher“ – und damit pessimistischer. Das Buch ist also in Balance. Um das „Made in Germany“ macht sich Middelhoff dennoch Sorgen. China wird schon 2025 die führende digitale Weltmacht sein und den enormen Vorsprung der US-Amerikaner und des Silicon Valley überrundet haben. Alleine in drei großen chinesischen Stadtzentren leben mehr Menschen als in ganz Deutschland. Trotzdem hat China die Corona-Krise bereits komplett überwunden. Ein Grund ist der enorm hohe Grad der Digitalisierung. Jeder Corona-Infizierte wird getrackt und kann seine vermeintlich tödlichen Viren nicht mehr weiter geben. Sein Handy ermöglichst es ihm nicht mehr, irgendein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzen. Es öffnet sich die Tür einfach nicht.
Wer das alles persönlich erlebt hat, weis, wie groß der Abstand inzwischen geworden ist. So hat der chinesische Digital-Finanzkonzern Ali-Pay bereits in der ersten Umsatz-Stunde (!) des chinesischen Black-Fridays 200 Milliarden Dollar umgesetzt. Unvorstellbar!
Buss sprach mit dem Autor darüber hinaus noch einmal über immer wieder medial aufflackernde Vermutungen und Vorwürfe über den vollständigen Verbleibt seines privaten Vermögens. Hören Sie seine Antwort dazu im aktuellen Podcast.

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https://magazine.hamburg/alstercast-zukunft-verpasst-ein-gespraech-mit-dr-thomas-middelhoff-zu-seinem-neuen-buch/