“London ruft Hamburg”: Das Geheimnis des Kupferhofs in Wohldorf

0
1343
Lange herrschte Ungewissheit, doch vor zehn Jahren stand es endlich fest: Der historische Kupferhof in Wohldorf geht nicht, wie von vielen befürchtet, an einen Investor, der dort Luxuswohnungen einrichtet. Neuer Hausherr wird eine Einrichtung zur Kurzzeitbetreuung schwerstbehinderter Kinder und ihrer Familien, der gemeinnützige Verein „Hände für Kinder“. Obwohl er sehr einsam liegt, ist der Kupferhof Zehntausenden von Hamburgern ein Begriff. Denn jahrzehntelang wurde hier die Hamburger Beamtenschaft aus- und weitergebildet. Kaum bekannt hingegen ist, was sich hier in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 im Verborgenen abspielte. Das aber macht das imposante Anwesen zu einem der geheimnisvollsten Orte in den Walddörfern.

Die Nerven der Männer sind zum Zerreißen gespannt. Sie haben keinen Blick für das stilvolle Ambiente im Hamburger Hotel Esplanade, in dem sich ein gemeinsamer Stab von Heer, Marine und Luftwaffe einquartiert hat. Es ist der 10. April 1940, der zweite Tag des deutschen Angriffs auf Norwegen. General Nikolaus von Falkenhorst und seine Mitarbeiter vom Gefechtsstand „Weserübung“ warten auf Informationen aus dem Kampfgebiet. Um 7.32 Uhr kommt die erlösende Nachricht: „Unternehmen Narvik, Drontheim, Bergen, Egersund, Arendal voll geglückt. In Oslo sind wir Herr der Lage.“ Die Depesche kommt jedoch nicht direkt von der Front, sondern aus dem nur knapp 20 Kilometer entfernten Kupferhof in Hamburg-Wohldorf. Hier betreibt die Abwehr, der deutsche militärische Geheimdienst, unter dem Tarnnamen „Domäne“ eine Funkzentrale, von der aus der gesamte Funkverkehr mit den deutschen Agenten in West- und Nordeuropa, England, Irland und dem gesamten amerikanischen Kontinent geführt wird.

Doch bis es so weit war, durchlebte der Kupferhof eine wechselvolle Geschichte. Nach einer seit dem Mittelalter andauernden Nutzung als Getreidemühle, Drahtmühle, Textilfabrik, Kupfermühle und herrschaftliches Domizil stand das 1912 errichtete Wohngebäude, als Haus Westphal bekannt, samt Parkgrundstück 1937 zum Verkauf. Zunächst fanden sich keine Kaufinteressenten, so dass im folgenden Jahr der Reichsfiskus bei einer Auktion das Anwesen günstig ersteigern und der Wehrmacht zur Nutzung anbieten konnte. Ohne auf eine Weisung der Berliner Zentrale zu warten, reklamierte die Dienststelle Hamburg des Amtes Ausland/Abwehr, deren Agentennetz fast die ganze westliche Hemisphere umspannte, die Immobilie für sich. Bei der Größe des Operationsgebietes kam es ihr darauf an, durch weitreichende Funkverbindungen eine schnelle Kommunikation mit ihren Agenten zu gewährleisten.

„Einsamer“ Kupferhof: Das 1912 errichtete Wohngebäude war wegen seiner abgeschiedenen Lage für die geheimen Aktivitäten der Nationalsozialisten perfekt geeignet.

So war der Abwehr-Major und Fernmeldeingenieur Werner Trautmann auf der Suche nach einem geeigneten Standort für eine Funkstelle auf den abgelegenen Kupferhof gestoßen. Das Gebäude bot genügend Platz für Dienst-, Funkbetriebs-, Technik- und Chiffrierräume und das Außengelände brachte ideale Voraussetzungen für die Errichtung der großen Antennenanlagen mit sich. Im Sommer 1939 bezog die Abwehr das Gebäude. Im Park wurden Antennen aufgebaut und beiderseits der Auffahrt entstanden Wohnbaracken für das Funkpersonal und ein rund um die Uhr besetztes Wachgebäude. Ein Bauernhaus gegenüber beherbergte die Funkwerkstatt.

Da der Empfang der Agentenmeldungen durch den gleichzeitigen Sendebetrieb erheblich beeinträchtigt wurde, wurde 1940 in einem leerstehenden Villenanwesen in der rund 1,5 Kilometer Luftlinie entfernten Diestelstraße in Ohlstedt die Sendestation „Vorwerk“ eingerichtet, die vom Kupferredder aus über Kabel fernbedient wurde. Der Kupferhof diente fortan als Betriebs- und Empfangszentrale.

Sendeanlage „Vorwerk“: Aus technischen Gründen wurde in einer vom Kupferhof ca. 1,5 km entfernten Villa in der Diestelstraße (Ohlstedt) eine Sendestation errichtet.

Möglich war das nur dank des handverlesenen Personals, das oftmals schon aus dem Zivilleben eine technische Qualifikation mitbrachte. Die Personalstärke der Funkstelle lag bei zwei bis drei Offizieren, sechs Wacht- und zwei Funkmeistern, 18 Funkunteroffizieren und 83 Mannschaftsdienstgraden von Heer, Marine und Luftwaffe. Unter den Mannschaften waren zahlreiche besonders engagierte frühere Amateurfunker, denen der zügige Aufbau der Anlage in Eigenleistung und das Funktionieren des oft schwierigen Agentenfunks hauptsächlich zu verdanken waren.

Rund um die Uhr hielten die Funker im Schichtdienst an 25 Empfangsplätzen Verbindung zu eigenen Außenstellen im besetzten Europa, dem neutralen Spanien und Südamerika, die als Relaisstationen dienten, untergeordneten Organisationseinheiten, Abwehrleuten in den deutschen Botschaften in den neutralen Staaten und vor allem zu rund 150 Agenten, die mit als Koffer getarnten Funkgeräten ausgestattet waren. Alle eingehenden Meldungen wurden codiert per Fernschreiber an die Abwehrstelle im Dienstgebäude des Generalkommandos in der Knochenhauerstraße (Sophienterrasse), weitergeleitet, ein Ort, mit dem später Generationen junger Männer als Musterungszentrum Bekanntschaft machten. Dort wurden die Meldungen ausgewertet und das Ergebnis an die Abwehrzentrale in Berlin übermittelt. Mit neun Empfangs- und zehn Sendeantennen entwickelte sich die Großfunkstelle „Domäne“ im Laufe der Zeit zur Leitstelle der Abwehr für den überseeischen Agentenfunk.

Die militärischen Erfolge der Wehrmacht in den ersten Kriegsjahren waren nicht zuletzt auch auf die Aufklärungsergebnisse der Auslandsagenten des „Geheimen Meldedienstes“ der Abwehrstelle Hamburg zurückzuführen. Das zeigte sich besonders deutlich beim „Unternehmen Weserübung“, der Invasion Norwegens und Dänemarks im Frühjahr 1940. Nachdem sich die Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff gemehrt hatten, nahm die Abwehrstelle Kontakt zu den Reedereien auf, deren Schiffe in der zweiten Aprilwoche norwegische Häfen anlaufen sollten, die im Schwerpunkt der beabsichtigten Landungen der deutschen Truppen liegen würden. Von den Dampfern aus sollten Informationen gesammelt und nach Wohldorf übermittelt werden. Da es üblich war, dass die Funkanlagen von Schiffen kriegführender Nationen in neutralen Häfen versiegelt wurden, wurde das zur Mitarbeit gewonnene Personal der Handelsschiffe mit Agentenfunkgeräten ausgestattet und im Kupferhof daran eingewiesen. Unter diesen Gewährsleuten war auch der Zweite Offizier des Dampfers „Widar“ der Neptun-Reederei.

Anfang April 1945 geht sein Schiff mit Kurs Norwegen in See. Am 5. April empfängt die Funkstelle in Wohldorf als ersten Spruch eine Positionsangabe mit Wettermeldung. Die Verbindung steht. Zwei Tage später läuft die „Widar“ in den Hafen der norwegischen Hauptstadt Oslo ein. Zeitgleich liefern deutsche Agenten via „Domäne“ wichtige Informationen über die dänischen und norwegischen Verteidigungsvorbereitungen.

In der deutschen Operationsplanung kommt der schnellen Besetzung Oslos zentrale Bedeutung zu. Doch ausgerechnet hier erleiden die Angreifer bereits in den ersten Stunden des Feldzugs einen empfindlichen Rückschlag. Die Marine scheitert am norwegischen Widerstand in der befestigten Dröbak-Enge und der Kreuzer „Blücher“ geht verloren. Umso wichtiger ist jetzt das Gelingen der Luftlandungen noch an diesem 9. April. Doch wegen der niedrigen Wolkendecke werden die Maschinen zu ihrem dänischen Ausgangsflugplatz Aalborg, der in den frühen Morgenstunden nicht zuletzt dank der Funkmeldungen der deutschen Agenten unversehrt eingenommen werden konnte, zurückbeordert.

Als mancher in den deutschen Stäben das Unternehmen schon verloren glaubt, sorgt der Zweite Offizier der „Widar“ mit seinen Wetter- und Lagemeldungen für neuen Angriffsschwung. Um 10.10 Uhr geht in Wohldorf die Funkmeldung ein: „Fornebu [Oslos Flughafen] anscheinend in deutscher Hand.“ Also sind doch einige Maschinen durchgekommen, sicher gelandet und haben die Bodentruppen abgesetzt. Als die „Widar“ kurz darauf die Auflösung der Wolkendecke meldet, startet Welle auf Welle der Transportflugzeuge und landet planmäßig in Fornebu. Die Einnahme Oslos und damit das Gelingen des gesamten Feldzuges ist nur noch eine Frage der Zeit.

Der Zweite Offizier der „Widar“ berichtet laufend über die Lageentwicklung. Immer neue Meldungen über die Landung weiterer Transportflugzeuge wechseln mit Informationen über die Wirkung der Stuka-Angriffe und des norwegischen Abwehrfeuers, Positionsangaben von Schiffen im Hafen als Zielmarken für die Luftwaffe, das Verhalten der Zivilbevölkerung und das Wetter. Schließlich kommt von der „Widar“ die erlösende Nachricht vom Gelingen des Feldzuges, woran ihr Zweiter Offizier nicht geringen Anteil hat. Denn die von ihm nach Wohldorf gesendeten Funksprüche waren in der entscheidenden Phase des Angriffs die einzigen Meldungen von der Front in Oslo, die über die Abwehrstelle in Hamburg das Führerhauptquartier erreichten.

Wie schon in Norwegen und Dänemark trugen auch bei den Feldzügen im Westen, in Griechenland und in Afrika die in der „Domäne“ eingehenden Funkmeldungen deutscher Agenten und Gewährsleute zur Entscheidungsfindung der militärischen Führung und damit zu den operativen Erfolgen bei. Daneben wurden auch sogenannte bewegliche Unternehmungen der Abwehr vom Kupferhof aus funktechnisch geführt. Besonders spektakulär waren die Kutter- und Segelyacht-Einsatze mit den Schiffen „Kyloe“, „Passim“ und „Anni Braz Bihem“ in Spanien, Irland, Südamerika und Südafrika.

Ein wahres Husarenstück war die Reise der beschlagnahmten französischen „Kyloe“, einer 20-Meter-Rennjacht, die im Frühjahr 1941 vom deutsch besetzten Frankreich lossegelt. An Bord hat sie Robey Leibbrandt, einen burischen Schwergewichtsmeister im Boxen. Dieser war nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin geblieben und hatte sich bei Kriegsbeginn freiwillig zu den deutschen Fallschirmjägern gemeldet. Jetzt soll ihn die „Kyloe“ in seine Heimat Südafrika bringen, um dort im Rahmen der Abwehr-Operation „Weißdorn“ Widerstandsgruppen gegen die englandfreundliche Regierung zu bilden und Anschläge zu verüben. Das Kommando an Bord hat der bekannte Hochseesegler und Kap Hornier Christian Nissen, auch bekannt als Hein Mück, der mittlerweile als Reserveoffizier im Dienst der Abwehr steht. Die 7300 Seemeilen lange Reise von St. Malo über Trinidad an die Küste nordwestlich von Kapstadt, wo Leibbrandt mit einem Schlauchboot abgesetzt wird, dauert 67 Tage. Die Rückfahrt endet, wieder ohne Zwischenstopp, nach weiteren 5400 Seemeilen in einem Hafen in Spanisch-Marokko, von wo aus die Besatzung per Flugzeug nach Deutschland zurückkehrt. Leibbrandt gelingt es noch, im Verborgenen eine Organisation aufzubauen, die den Sturz der Regierung vorbereitet. Doch dann wartet man in Wohldorf vergeblich auf Funknachrichten aus Südafrika. Ein in seine Gruppe eingeschleuster Agent des britischen Secret Intelligence Service hat Leibbrandt enttarnt. Wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, wird Leibbrandt später zu lebenslanger Haft begnadigt und nach dem Krieg amnestiert.


Die Funkbetriebsstelle im Kupferhof stand auch im Mittelpunkt eines Agentenkrimis, der in keinem Buch über die Weltkriegsspionage fehlt: „Operation Double Cross“ („Unternehmen Doppelspiel“), ein Funkspiel mit Doppelagenten, das sich der britische Geheimdienst MI5 mit der deutschen Abwehr lieferte. Eine der Schlüsselfiguren in diesem Spiel war der walisische Kaufmann Arthur Owens, der sich 1937 bei einer Geschäftsreise nach Deutschland dem Hauptmann Nikolaus Ritter von der Abwehrstelle Hamburg als Agent zur Verfügung gestellt hatte. Dem lieferte er Informationen, die Ritter als „zuverlässig und wertvoll“ einstufte, wie er nach Berlin berichtete.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist drinnen-1024x690.jpg
Chiffrierraum: Das diensthabende Personal war handverlesenen und brachte oftmals schon aus dem Zivilleben technische Qualifikationen mit. Bis zum Mai 1945 war es aktiv.

Das hinderte Owens indes nicht daran, sich auch der britischen Seite anzubieten und sie mit Informationen zu versorgen, die er bei seinen Reisen nach Deutschland gewonnen hatte. Im Juli 1939 reiste er auf Wunsch Ritters ein letztes Mal nach Deutschland und wurde im Kupferhof im Bau und Betrieb eines Agentenfunkgeräts ausgebildet, dessen Bauteile er einen Monat später auf konspirativem Weg in England von der Abwehr erhielt.

Im Sommer 1940 begann die Abwehr mit dem systematischen Ausbau ihres Agentennetzes in England. Eine wichtige Funktion zugedacht war dabei eigentlich dem nun schon bewährten Agenten „Johnny“ – Arthur Owens. Dem aber war die britische Spionageabwehr längst auf die Schliche gekommen. Sie ließ den Doppelagenten zunächst gewähren, weil sie sich durch seine Überwachung Informationen über die Arbeitsweise deutscher Agenten versprach. Als Geheimdienst-Profi spürte Ritter, dass Owens auch für die Gegenseite arbeitete, ließ ihn aber seinerseits gewähren. Einen Tag nach der englischen Kriegserklärung, am 4. September 1939, klickten die Handschellen, weil die britische Spionageabwehr Owens letztlich doch nicht traute. In Hamburg ahnte man davon nichts.

Unter der Leitung der britischen Spionageabwehr nahm Owens aus dem Gefängnis in London Verbindung mit der Station in Wohldorf auf. Das war die Geburtsstunde des Doppelspiels. Dessen Dreh- und Angelpunkt war der Agent „Snow“ – Arthur Owens. Wieder in Freiheit, sendete dieser regelmäßig von MI5 zusammengestellte Meldungen nach Wohldorf, mal sogenanntes Spielmaterial, das waren wahrheitsgemäße aber weniger wichtige Informationen, mit denen ein eventuelles Misstrauen Ritters gegenüber Owens zerstreut werden sollte, mal gekonnt aufbereitete Falschinformationen. Seine Funksprüche enthielten Meldungen über Schiffsbewegungen, Infrastruktureinrichtungen, Verteidigungsanlagen, die Dislozierung von Truppen, die Belegung von Flugplätzen und mögliche Bombenziele in England, „Informationen von unschätzbarem Wert“, wie Ritter notierte.

Allerdings war Ritter mittlerweile davon überzeugt, dass Owens für beide Seiten tätig war. Gleichwohl behielt die britische Seite in diesem Doppelspiel stets die Oberhand. Denn Ritter nahm an, dass Owens‘ ihm entgegengebrachte Loyalität stärker wäre als die gegenüber den ihm eigentlich verhassten Engländern. Deshalb würde Owens ihn besser bedienen als seine Gegenspieler, so Ritters Fehleinschätzung. Beide Männer trafen sich regelmäßig im neutralen Ausland, wo Owens Spionageaufträge von Ritter entgegennahm. Bei einem Treffen in Lissabon im Sommer 1940 konfrontierte Ritter sein Gegenüber mit seinem Verdacht und Owens gab seine Zusammenarbeit mit dem MI5 zu. Nach einem weiteren Treffen in der portugiesischen Hauptstadt brach Ritter den Kontakt zu seinem einstigen Spitzenagenten in England ab.

Nun ließ auch der MI5 Owens fallen und steckte ihn bis Kriegsende ins Gefängnis. Im Kupferhof gingen noch bis zum Frühjahr 1941 Meldungen von Owens Funkgerät ein, wobei Mitarbeiter der britischen Spionageabwehr, die zuvor genauestens die typische Handschrift von Owens beim Sendebetrieb studiert hatten, den Funkverkehr übernahmen. Auch wenn dessen Hauptakteur ausgespielt hatte, ging das Doppelspiel mit bis zu 120 Doppelagenten noch fast vier Jahre weiter, bis in der „Domäne“ die Empfangsgeräte abgeschaltet wurden.

Das war Anfang Mai 1945 und die britischen Truppen standen bereits vor den Toren der Stadt. Kurz vor deren Einmarsch zerstörten die Funker Teile der technischen Einrichtungen der Funkbetriebsstelle oder machten sie unbrauchbar. Der Kupferhof als Agentenfunkzentrale war Geschichte. Jan Heitmann, Historiker & Journalist

Aufmacherfoto: Empfangsraum: Der deutsche militärische Geheimdienst betrieb unter dem Tarnnamen „Domäne“ im Kupferhof eine Funkzentrale für die Kommunikation mit deutschen Agenten. Alle Fotos: © R. Staritz